Überflieger

„In Tschetschenien sind wir alle wie eine ganz große Familie“

Miriam Û. geht in die elfte Klasse und hat in ihren ersten sieben Lebensjahren zum Teil in Tschetschenien, einer Republik im Süden Russlands, gelebt. Der Großteil der Tschetschenen ist muslimisch und spricht sowohl russisch als auch ihre eigene Sprache, Tschetschenisch.

Was macht die tschetschenische Kultur besonders und inwieweit ist sie anders als hier?

Also die Kultur ist schon sehr anders als hier. Zum Beispiel haben wir dort immer noch ein klares Bild von einer Frau und einem Mann und das ist ja hier nicht mehr so. Also meistens wird von dem Mann erwartet, zu arbeiten, und die Familie zu ernähren. Aber viele machen das auch nicht mehr so. Frauen können auch gute Jobs bekommen und ihnen gilt generell großer Respekt in Tschetschenien. Die kulturellen Unterschiede sind auch ein bisschen religionsbezogen. Ich sag mal so, bei uns gibt es viele Sachen, die hier völlig normal sind, aber bei uns ist es halt eher so was beschämendes, zum Beispiel mit Liebe, das zeigt man nicht so deutlich, also auch nicht mal unter Familie. Meinen Vater zum Beispiel nenne ich beim Namen und nicht irgendwie Papa oder so . Und ich finde, was es auch sehr stark ausmacht, ist dass alles sehr herzlich und familiär ist. Selbst wenn man eine tschetschenische Person nicht kennt, spricht man sich trotzdem an und lädt sich zu sich ein, so als wären wir alle eine ganz große Familie.

Hängt das auch sehr mit der Religion zusammen?

Natürlich hängt das auch mit Religion zusammen, aber selbst wenn wir nicht muslimisch wären, wäre das trotzdem so.

Wer aus deiner Familie lebt denn überhaupt in Tschetschenien?

Alle außer meiner direkten Familie wohnen eigentlich in Tschetschenien. Aber die Schwester von meiner Oma zum Beispiel ist in Deutschland oder ein paar etwas entferntere Verwandte sind in Belgien.

In unseren Umfragebogen zum Thema „Herkunft & Heimat“ hast du geschrieben, dass deine Herkunft und Heimat Tschetschenien ist. Warum siehst du Tschetschenien mehr als deine Heimat und fühlst dich dort vielleicht mehr zu Hause als hier?

Das liegt daran, dass die Erziehung von Tschetschenen sehr anders ist als hier und obwohl ich hier geboren bin und hier lebe, wurde ich trotzdem nach dieser Moral erzogen. Hier ist es so, dass ich viele Leute von dieser Kultur nicht verstehen kann, weil ich ein ganz anderes Mindset hab und dort fühle ich mich sehr verstanden. Wir sind alle gleich und wissen, was wir als gut und was als schlecht ansehen. Deswegen fühle ich mich da wohl. Wenn meine Eltern deutsch wären und ich in Tschetschenien leben würde, wäre das wohl ähnlich.

Hat auch die Zeit, die du an einem Ort verbringst, Einfluss auf das Gefühl von zu Hause? Ist so Deutschland auch ein Zuhause, weil du hier viel Zeit verbracht hast?

Ja, denn ich denke, dass Zuhause mit Erinnerungen verbunden ist. Und wenn du sehr lange hier Zeit verbringst, dann sammelst du hier viele Erfahrungen auch mit anderen Menschen, das macht es auch zu einem zu Hause.

Was vermisst du hier?

Also hier ist es ja mehr so, jeder ist wirklich ein einzelner Mensch, der nur für sich ist, und auf der Arbeit oder auch so ist alles sehr formell. Und dort ist es halt zu einem bestimmten Grad entspannter. Im Sinne von Integration merke ich auch hier, dass zum Beispiel meine Eltern immer noch Rassismus erfahren, weil man bei ihnen halt auch merkt, dass sie nicht deutsch sind und da fühlt man sich halt auch nicht so ganz eingeschlossen.

Es gibt ja auch Menschen, die sehr viele Herkünfte haben, auch von den Eltern her, und das trägt ja sehr zur Frage der Identität bei. Diese Leute wissen dann vielleicht nicht, wo gehöre ich dazu und auch aus diesem Grund finde ich, dass Heimat etwas sehr emotionales ist. Es gibt viele Menschen, die in einem komplett fremden Land sind, mit dem sie nichts zu tun haben, und sich dort so wohlfühlen, dass sie sagen, das ist für mich wie mein Zuhause. Und dadurch wird ja Zuhause auch schon ein bisschen definiert, dass es etwas ist, wo man sich wohlfühlt. Zum Beispiel gibt es auch einen Youtuber, der heißt Simon, der ist nach Madeira ausgewandert und er fühlt sich dort extrem wohl, wohler als in Deutschland, wo er herkommt, und deshalb finde ich, Heimat kann man sehr breit fächern.

Wenn du dich entscheiden könntest, nur eine Herkunft und Heimat zu haben, also nur Deutschland oder nur Tschetschenien zu haben, würdest du das wollen?

Also ich würde es schon so lassen, wie es jetzt ist, weil, also emotional fühle ich mich mehr zu den Tschetschenen hingezogen, aber ich mag Deutschland auch und zum Beispiel in Deutschland habe ich viel bessere Zukunftsaussichten und die Bedingungen sind halt besser hier, deswegen finde ich es schon so gut, wie es ist.

Das Interview führte V.R.

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