Überflieger

Dein Leben wie eine Zugfahrt

Das Leben ist wie eine Zugfahrt. Natürlich keine gewöhnliche, wie die Zugfahrt zu deinen Großeltern oder die in den Urlaub nach Paris. Nicht einmal wie eine um die ganze Welt. Die Fahrt deines Lebens ist viel länger, unglaublich lang, aber doch endlich. Irgendwann erreichst du die Endstation, dein Leben ist zu Ende, du bist tot. Doch diese Endstation ist so unfassbar weit entfernt, nie würdest du sie schon als Ziel sehen, denn ehrlich, wie oft denkst du, als Jugendliche*r, schon an den Tod?

Wir setzen uns andere Ziele, Zwischenstationen. Das mögen große Städte mit trubeligen, geschäftigen Bahnhöfen sein, aber manchmal auch bloß kleine gemütliche Dörfer mit nur einem Gleis und einem winzigen Häuschen als Haltestelle. Die nächste Haltestelle deiner Zugfahrt ist vermutlich dein Abitur. Hier hältst du nur kurz an, vielleicht nur um die Anzeige des nächsten Stopps in den Wagons zu ändern. Möglicherweise steht hier jetzt in grellen Buchstaben „Studium“, vielleicht „Beziehung“ oder schon „Heirat“. Bei manchen dieser Stationen bleibst du vielleicht ein wenig, siehst dich in der Stadt um oder nimmst etwas auf die Weiterfahrt mit. Doch dann geht es schon weiter, schnell nimmt der Zug wieder Fahrt auf.

Auch jetzt gerade braust du vermutlich mit vollem Tempo durch wunderschöne Landschaft. Die Landschaft deiner Kindheit, deiner Jugend. Links liegen ein paar Felder, rote Mohnblumen wippen auf und ab, wehen im leichten Wind. Die Sonne scheint. Nun ein Wäldchen, hohe Tannen, bemooste Hügel, ein schmaler Bach. Und wieder Weiden, blühende Wiesen. All diese wunderschöne Landschaft ist verschwommen, fliegt an dir vorbei auf deinem Weg zur nächsten Station. Und wenn du doch einmal kurz die Nase an die Fenster drückst und einen Blick auf eine grüne Wiese mit einigen Blüten erhaschst, schaust du eigentlich gar nicht hin, sondern nur ungeduldig nach vorn, in der Hoffnung, gleich noch ein prächtigeres Blütenmeer vorbeiziehen zu sehen. Doch es kommen nur noch braune Felder, der Moment ist vorbei.

Wir befinden uns seit jeher in diesem Zug, auf diesen Schienen, die so schmal und eisern sind und sich gradlinig durch die Natur schneiden und am Horizont verschwinden. Es gibt keinen Platz auf diesen Schienen, auf diesem Weg, auf den du seit deiner Geburt gedrängt wirst, der ein Abitur für dich vorsieht, ein Studium, eine kleine Familie, ein eintöniges Arbeitsleben und eine ruhige Rente. Es ist der Weg, den auch deine Eltern und vielleicht auch Großeltern schon gegangen sind, der Weg, den jeder geht. Der, auf dem dein Leben einfach an dir vorbeizieht und du dich am Halt deines 70. Geburtstags kurz vor dem Abpfiff verzweifelt fragst, wo denn dein Leben geblieben ist.

Doch du kannst anhalten. Du hast das Recht dazu. Du bist die Lokführerin oder der Lokführer. Du bist es, die oder der die Bremsen zieht. Also tu dies nun. Steige aus dem Zug, bewundere die überwältigend schöne Landschaft deines Lebens, springe hinaus auf die blühenden Wiesen. Du kannst dein Leben so sehr genießen, etwas anderes machen als all die anderen. Du musst nicht heiraten, keine zwei Kinder bekommen und im Büro arbeiten, wo jeder Tag gleich aussieht und du nur auf das nächste Ziel hinarbeitest, etwas mehr Gehalt zu bekommen. Du kannst auch Schauspieler*in werden, in ein fernes Land ziehen, ein Kinderheim eröffnen oder ganz alleine in der Natur leben, irgendetwas tun, was dich begeistert.

Aber natürlich kannst du auch wieder in den Zug steigen und weiterfahren. Vielleicht ist es dein größter Wunsch, ein ruhiges, berechenbares Leben zu führen. Aber fahre doch etwas langsamer, damit du den Weg genießen kannst.

Lasse nicht zu, dass deine Kindheit und Jugend, die vielleicht die schönste Zeit des Lebens sein soll, einfach an dir vorbeifliegt. Denke doch nur zurück an das letzte Jahr 2020, woran kannst du dich erinnern, was war schön? Vielleicht wirst du an deinen Geburtstag oder an Weihnachten denken. Doch das waren alles nur Zwischenstationen in klitzekleinen Dörfern. Und dazwischen gab es vermutlich nicht viel. Nur immer die gleichen routinierten Schultage, die du schnell hinter dich bringen wolltest, damit endlich wieder Ferien sind. (Während der Schulzeit fährst du also besonders schnell, während der Ferien vielleicht etwas langsamer.) Nimm dir dieses Jahr also etwas vor, was dich glücklich macht, etwas, was dir wichtig ist, wofür du dich einsetzen willst, wie Gleichberechtigung, Klimaschutz oder deine Rechte als Jugendliche*r. Überlege dir ein Projekt, woran du jeden Tag arbeiten möchtest, wie das Schreiben eines Buches oder das Spielen eines Instrumentes oder das tägliche Laufen. Erlebe etwas, suche dir irgendetwas und vor allem würdige die schönen Momente, genieße sie. Schaue zu den Zugfenstern hinaus und lasse nicht jeden Tag deines Lebens wie den vorigen verstreichen.

{von Vibeke Ratjen}

 

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